Gatterer-Auszeichnung an Daniela Prugger verliehen

Am 1. Juni 2023 wurden in Claus Gatterers Heimatgemeinde Sexten, Südtirol, die „Auszeichnung für hervorragenden Journalismus im Gedenken an Claus Gatterer“ und der Schülerpreis CLAUS verliehen. Die freie Journalistin Daniela Prugger wurde für ihre in zahlreichen deutschsprachigen Medien veröffentlichten Reportagen und Berichte über den Krieg in der Ukraine und seine Auswirkung auf die Bevölkerung vor Ort ausgezeichnet.

In ihrer Preisrede erinnerte Daniela Prugger an die mehr als 60 Medienmitarbeiter*innen, die im russischen Angriffskrieg bereits ums Leben kamen. Trotz der schwierigen und gefährlichen Bedingungen sehe sie ihre Aufgabe als „Zeugin der Geschichte“ als Privileg an. Sie erinnerte auch an die große Verantwortung, die Journalist*innen tragen, wenn sie Menschen in den schlimmsten Momenten ihres Lebens treffen.

Die Laudatio auf Prugger hielt der Journalist Günther Pallaver und lobte ihre Fähigkeit, durch das Vordergründige zu den Hintergründen vorzudringen. Sie habe wie Claus Gatterer gelernt, genau hinzuschauen und zu hinterfragen. Daniela Prugger schreibe „keine schnellen Storys, sondern Geschichten, für die man sich Zeit nehmen muss“, so Pallaver.

Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung ist dem Südtiroler Journalisten, Historiker, Schriftsteller und Dokumentarfilmer Claus Gatterer gewidmet. Sie wird seit 2021 vom Presseclub Concordia und der Michael Gaismair Gesellschaft Bozen verliehen, von der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol gestiftet und von der Gemeinde Sexten unterstützt. 2023 haben als Jurymitglieder Peter Huemer (Jurysprecher), Armin Wolf, Corinna Milborn, Lisa Maria Gasser, Günther Pallaver, Edith Meinhart und Lukas Matzinger (Vorjahrespreisträger) aus 37 Einreichungen die beste Arbeit gekürt.

Berichterstattung

Der Standard: Gatterer-Preis an Ukraine-Korrespondentin Daniela Prugger verliehen
Der Standard: Ukraine-Korrespondentin Daniela Prugger erhält Gatterer-Auszeichnung
ORF.at: Gatterer-Auszeichnung für Daniela Prugger
RaiNews: Daniela Prugger erhält Claus-Gatterer-Preis „Man muss langfristig dranbleiben“
Salto.bz: Beeindruckende Reportagen
Südtiroler Landesverwaltung: Gatterer-Auszeichnung für Südtiroler Journalistin Daniela Prugger | Alle News | News | Südtiroler Landesverwaltung

Preisrede von Daniela Prugger

Lieber Günther Pallaver,

vielen Dank für die lobenden Worte.

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Vertreter des Presseclubs Concordia und der Michael Gaismair Gesellschaft Bozen, sehr geehrter Herr Summerer, liebe Familie, liebe Freunde, vielen Dank, dass Sie heute so zahlreich erschienen sind.

Es ist mir eine große Ehre, diese Auszeichnung hier in Südtirol entgegenzunehmen. Der Preis ist nach einem der bekanntesten Journalisten dieser Region benannt. Nach einem Mann, der hier in der Gemeinde von Sexten aufgewachsen ist: Claus Gatterer. Gatterer steht für sozial engagierten Journalismus und die Verständigung zwischen den Kulturen in einem Europa nach zwei Weltkriegen. Mehr als 30 Jahre nach seinem Tod inspiriert er uns noch immer.

Ich freue mich sehr, diesen Preis entgegenzunehmen, auch wenn er mir für die Berichterstattung über tragische Ereignisse verliehen wird. Ich arbeite als Korrespondentin in der Ukraine und berichte seit vier Jahren über dieses Land, seine Menschen, die Geschichte und Kultur. Und in den vergangenen 462 Tagen auch über den russischen Invasionskrieg. Und darüber werde ich heute sprechen.

Als Claus Gatterer im Jahr 1984 verstarb, war die Ukraine noch Teil der Sowjetunion. Zwei Jahre später erschütterte die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl die Welt. Kurz nachdem ich geboren wurde, erklärte das Land seine Unabhängigkeit. Es folgten Wirtschaftskrisen und zwei Revolutionen, darunter die Maidan-Proteste im Jahr 2013/2014, die den politischen Kurs des Landes endgültig in Richtung Europa lenkten. In unsere Richtung. Im selben Jahr annektierte Russland die Krim und brachen die Kämpfe im Donbas aus. Und obwohl bereits damals zum ersten Mal seit Jahrzehnten Krieg in Europa ausbrach, fragten sich viele, was uns das alles angeht.

Ich selbst bin in Südtirol aufgewachsen, nur wenige Täler und Dörfer von Sexten entfernt. Ich bin Teil einer europäischen Generation der offenen Grenzen. Und wenn wir nicht wollten, dann mussten wir uns mit Kriegen nicht näher auseinandersetzen. Über die Weltkriege haben wir aus den Geschichtsbüchern gehört und vielleicht von den Großeltern, wenn sie darüber reden wollten.

Krieg. Soldaten, Panzer, Kampfflugzeuge, Minen. Wer kann sich das hier in Südtirol heute noch vorstellen. Dabei verlief die Front, einst genau hier, in den Dolomiten. Und die Bunker, die in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg errichtet wurden, findet man in meinem Heimatdorf sogar heute noch vor. Nur sind sie mittlerweile von Moos und Bäumen überwuchert und die Eingänge versperrt und fallen kaum noch auf, wenn im Wald an ihnen vorbeigeht. In den vergangenen Monaten musste ich oft an diese Bunker denken.

Ich erinnere mich an die Tage vor dem 24. Februar in Kiew, als plötzlich überall die Aufschrift „Luftschutzbunker“ auftauchte und wir dieses Wort wieder ein Teil des alltäglichen Vokabulars wurde. Schilder mit Pfeilen zeigten in die Keller der Wohnhäuser. Im Internet teilten manche Google Maps-Karten, auf denen die „Schutzkeller“ in den verschiedenen Stadtteilen eingetragen wurden. Zur gleichen Zeit zog Russland seine Truppen an der Grenze zusammen. Wir wussten das, doch wir glaubten weiterhin an die Diplomatie: An die Telefonate und die Gespräche zwischen Putin und den westlichen Politikern. Dass ein Land ein anderes einfach so überfallen würde, konnten wir uns nicht vorstellen. In diesen Tagen vor dem 24. Februar haben wir uns einen Spaß daraus gemacht, einige dieser Schutzkeller zu besuchen: unterkellerte Bars zum Beispiel. Im Ernstfall in eine Bar, haben wir gescherzt.

In den Wochen nach dem 24. Februar waren es die U-Bahn-Stationen, in denen sich die Menschen sicher fühlten. Sie wurden tief unter der Erde gebaut, während des Kalten Krieges, als die Gefahr eines Atomkrieges allgegenwärtig war. Die U-Bahn-Stationen sollten im Falle eines feindlichen Angriffs als Bombenschutzräume dienen. Doch sie kamen erst im Jahr 2022 zum Einsatz, in einer Zeit, in der der Aggressor-Staat Russland wieder mit dem Einsatz nuklearer Waffen droht. In einer Zeit, in der Russland die Gesellschaft seines Nachbarlandes terrorisiert. Menschen, die häufig dieselbe Sprache sprechen.

462 Tage dauert dieser Krieg bereits. Seit 462 Tagen bringen Wladimir Putin und seine Truppen unermessliches Leid über die Ukraine und seine Bewohner*innen. Ein Land, das sich nur wenige hunderte Kilometer von hier entfernt befindet. Doch in Europa gibt es derzeit zwei Realitäten. In der einen gehen die Menschen ohne Angst durch die Straßen, ohne Angst über die Felder und den Wald, ohne Angst ins Bett. In dieser Welt, in Südtirol zum Beispiel, bedeutet das Geräusch von Flugzeugen, dass Menschen in den Urlaub fahren oder auf einen Business-Trip. Die Menschen in der Ukraine leben in der anderen Realität. In einer Realität der Angst und des Überlebens, in der Flugzeuge bedeuten, dass man in Deckung gehen muss und man Felder und Wälder aufgrund von Minen meidet.

Krieg ist anders als man es sich vorstellt, wenn man ihn noch nie erlebt hat. Anders, als in Filmen, zu denen es einen Soundtrack gibt, eine nachvollziehbare Handlung und manchmal ein Happy End. Krieg bedeutet Tod, bedeutet Zerstörung, bedeutet Opfer bringen, bedeutet Verlust, Angst, Hass, Stress, Schuldgefühle, Erschöpfung. Und im wirklichen Leben bedeutet Krieg, dass man all das manchmal gleichzeitig spürt und nicht in der Lage ist, die Dinge zu verarbeiten, weil die Kämpfe nicht aufhören. Im wirklichen Leben ist Krieg nicht schwarz-weiß, aber die Zivilisten verlieren immer. Und Krieg bedeutet nicht nur Bomben, sondern alles, was danach kommt.

Es gibt etwas, das als „Fog of War“, „Nebel des Krieges“ bezeichnet wird. Damit ist gemeint, dass es unmöglich ist, sich einen vollständigen Überblick über einen Krieg zu verschaffen. Aber als Journalisten vor Ort können wir einen Ausschnitt zeigen. Wir hören zu, führen Interviews, machen Bilder, schauen hin, halten fest. Viele meiner Kollegen und Kolleginnen haben dafür einen hohen Preis gezahlt. Seit dem 24. Februar 2022 sind mindestens 60 Journalist*innen, Fotograf*innen, Produzent*innen, Übersetzer*innen und andere Medienmitarbeiter ums Leben gekommen. In Irpin, in Cherson, in Tschassiw Jar. Der Krieg findet überall im Land statt.

Die Bedingungen, unter denen wir Journalist*innen arbeiten, sind schwierig und oft gefährlich. Ich sehe meine Position und meinen Job dennoch als Privileg an, denn wir sind Zeug*innen der Geschichte und dabei kommt uns eine große Verantwortung zu. Als Journalist*innen treffen wir Menschen in den schlimmsten Momenten ihres Lebens. Wir erzählen Geschichten, die uns nicht mehr loslassen. Und wir treffen Menschen, die uns inspirieren, weil sie nicht aufgeben, trotz der Gewalt, der Folter, und der Befürchtung, dass dieser Krieg so schnell nicht enden wird.

An diesem Punkt müssen wir über die unverzichtbare Rolle des Journalismus und der Journalist*innen sprechen, die vor Ort sind und Nachrichten einordnen, die erzählen, dass etwa Kiew an 17 Nächten im Mai angegriffen wurde und was das alles bedeutet. Denn 462 Tage nach Beginn der Invasion schafft es diese Nachricht nicht mehr auf die Titelblätter. Schließlich werden die meisten Raketen und Drohnen dank westlicher Luftabwehrsysteme abgefangen.

Kamikazedrohnen und Raketen auf eine europäische Hauptstadt. Jede zweite Nacht im Mai wurden die Bewohner*innen Kiews durch Luftalarm und Explosionen geweckt. Alleine in der Nacht von gestern sind in den Angriffen drei Menschen gestorben, darunter ein elfjähriges Mädchen. Trotzdem hört man in der Ukraine nicht die Forderung danach, dass es jetzt sofort und unter den derzeitigen Umständen Friedensverhandlungen geben soll.

Wenn ich in diesem Krieg eines gelernt habe, dann, dass Frieden und Pazifismus Privilegien sind, die sich nicht jeder auf dieser Welt leisten kann. Denn: Wer will schon kämpfen? Wer will die Macht der Waffen am eigenen Leib spüren, die Traumata ein Leben lang mit sich herumtragen, Kameraden – manchmal sogar ein Körperteil verlieren, oder den eigenen Verstand gleich dazu. Wir haben keine andere Wahl, wenn wir in Freiheit leben wollen, sagen mir die meisten in der Ukraine noch immer.

Krieg ist ein Zustand. Von einem Moment auf den anderen ist nichts mehr so, wie es war. Vor ziemlich genau einem Jahr war ich in einer Stadt in der Ostukraine, in der Region Donbas, wo Russland schon seit neun Jahren verdeckt Krieg führt. Ich fuhr in eine Stadt, mit 70.000 Einwohnern, kleiner als Bozen, die zwar nahe der Front lag, aber kaum von Bedeutung schien und von der damals wenige gehört hatten: Bachmut. Ich habe Bachmut gesehen, als man dort noch wohnen konnte. Ein Jahr später fast nur noch Ruinen übrig.

Vor einem Jahr war ich in Bachmut, das war bereits nach Butscha, nach Mariupol. 90 Prozent der Häuser wurden zerstört, Menschen umgebracht, eingesperrt, gefoltert, deportiert. Doch in der russischen Propaganda heißt es über Mariupol, dass die Stadt befreit wurde.

Der Krieg in der Ukraine findet auch im Informationsraum statt. Wir wissen, dass Russland der Aggressor-Staat ist. Der Angriff auf die Ukraine gilt als einer der am besten dokumentierten der Geschichte. Doch es ist unsere Pflicht, hinzuschauen und wachsam zu sein. Denn die Kriegsverbrechen in Syrien wurden ebenfalls dokumentiert. Trotzdem feiert Machthaber Bashar al-Assad mittlerweile ein Comeback. Wird es mit Putin in zehn Jahren genauso sein?

Morgen wird in der Ukraine der 463. Tag im Krieg anbrechen.

Es ist unsere Pflicht hinzuschauen. Und das alles nicht zu vergessen.

In diesem Sinne werde ich weitermachen.

Vielen Dank.