Verleihung der Gatterer-Auszeichnung 2024

Die Gatterer-Auszeichnung wurde am 6. Juni 2024 gemeinsam mit dem CLAUS Schülerpreis in Claus Gatterers Heimatgemeinde Sexten verliehen.

Mit der „Auszeichnung für hervorragenden Journalismus im Gedenken an Claus Gatterer“ wurde 2024 die freie Journalistin und Autorin Barbara Bachmann geehrt. In ihrem Essay „Ein Leben so kurz“, veröffentlicht im SZ-Magazin, beschreibt Bachmann die Erfahrung der stillen Geburt ihrer Tochter Hera in der 36. Schwangerschaftswoche und die darauf folgende Trauerperiode.

Durch die meisterhafte Sprache und den bedachten Zugang gelingt es der Autorin, ihr Schicksal in seiner Tragweite auch Nicht-Betroffenen verständlich zu machen und anderen Betroffenen Halt zu bieten. Durch seine Generalisierbarkeit dient der intime Text auch als bedeutender Beitrag zur Sichtbarmachung des gesellschaftlich tabuisierten Themas Totgeburt. Barbara Bachmann arbeitet seit 2013 als freie Reporterin. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in „Reportagen“, „mare“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Die Zeit“ publiziert.

Die Laudatio hielt der österreichische Filmemacher Kurt Langbein, die Rede zum 100. Geburtstag von Claus Gatterer der aus Bozen stammende Journalist Andreas Pfeifer, Leiter des ORF-Büros in Berlin.

Der Südtiroler Kulturlandesrat Philipp Achammer verweist auf die Bedeutung dieses Preises, der im Sinne des Namengebers kritisches Hinterfragen und soziales Engagement hervorhebt und würdigt: „Gerade auch für die Jugend sind Vorbilder wichtig, die in der Gesellschaft wie Seismographen agieren und bewusstseinsbildend Themen aufarbeiten und vertiefen, neue Aspekte beleuchten und Randfragen ins Zentrum bringen.“

Die Gatterer-Auszeichnung wurde gemeinsam mit dem CLAUS Schülerpreis verliehen. Der Schülerpreis ist ein Gemeinschaftsprojekt des Schulverbundes Pustertal, der pädagogischen Abteilung der deutschen Bildungsdirektion Südtirol, der Gemeinde Sexten und des ORF, an dem sich Oberschüler*innen aus Südtirol beteiligt haben. Barbara Bachmann, Teresa Indjein, Wolfgang Mayr und Andreas Pfeifer haben aus neun eingereichten Film- bzw. Radiobeiträgen den Sieger ermittelt: „Südtiroler Stolz. Eine Reise der Identität“ von Jannik Burger.

Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung ist dem Südtiroler Journalisten, Historiker, Schriftsteller und Dokumentarfilmer Claus Gatterer gewidmet. Sie wird seit 2021 vom Presseclub Concordia und der Michael Gaismair Gesellschaft Bozen verliehen, von der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol gestiftet und von der Gemeinde Sexten unterstützt. Die Jurymitglieder im Jahr 2024 waren Kurt Langbein (Jurysprecher), Lisa Maria Gasser, Thomas Hanifle, Nina Horaczek, Franz Kössler, Sahel Zarinfard und die Vorjahrespreisträgerin Daniela Prugger.

Preisrede von Barbara Bachmann

Lieber Kurt Langbein, vielen Dank für Ihre wertschätzenden Worte. Sehr geehrte Vertreter:innen des Presseclubs Concordia und der Michael-Gaissmair-Stiftung Bozen, werter Herr Summerer und Herr Achammer, liebe Familie und Freunde, vielen Dank, dass Sie alle heute hier sind.

Als Reporterin bin ich Beobachterin. Ich erzähle die Geschichten anderer, tauche in deren Leben ein, stelle ihnen Fragen, versuche ihnen während der Recherche so nah wie möglich zu kommen und mich selbst zurück zu nehmen. Nicht zu werten, sondern geschehen zu lassen und schließlich im Schreiben Distanz einzunehmen.

Ich bin niemand, die gerne über sich selbst schreibt, die ihr Innerstes nach außen kehrt. Und doch habe ich in dem Text „Ein Leben so kurz“ genau das getan. Ich erzähle darin vom größten Schmerz, den ich in meinem Leben erfahren habe. Vom Verlust meines ersten Kindes, meiner Tochter Hera.

Hera ist in der 36. Schwangerschaftswoche in meinem Bauch verstorben. Von einem auf dem anderen Moment war ihr Leben vorbei, dabei schlug ihr Herz neun Monate lang unter meinem. Hera hat alles verändert. Sie hat mich zur Mutter gemacht. Eine Mutter ohne Baby. Eine Sternenmama mit einem Sternenkind.

Ich habe den Text „Ein Leben so kurz“ zunächst nur für mich geschrieben. Weil Worte mir halfen, meine Gefühle und Gedanken zu ordnen. Weil sie heilsam waren. Und befreiend. Bald verstand ich, dass es für mich nicht damit getan ist, diese Worte bloß festzuhalten und dann wieder verschwinden zu lassen. Dass es Teil der Heilung sein wird, diese Geschichte mit anderen zu teilen, sie in die Welt hinauszutragen. Es war vielleicht meine ganz persönliche Aufgabe.

Eine Kollegin zeigte sich überrascht, dass ich dies unter meinem Namen tat. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, anonym über meine Tochter zu schreiben. Aber die Verwunderung darüber zeigt, dass offen über Sternenkinder zu reden noch immer ein Tabu ist, in mehrerlei Hinsicht. Der Tod ist tabu. Wir versuchen ihn aus unserem Leben zu verbannen und doch gelingt uns das nicht. Ein totes Neugeborenes ist ein doppeltes Tabu. Ein Baby soll gesund und munter sein. Alles andere ist inakzeptabel. Es darf nicht sein. Und doch geschieht es.

Wenn es mir tatsächlich gelang, mit dem Text an diesem Tabu zu rütteln, es ein Stück weit zu Fall zu bringen, so hat es sich gelohnt ihn zu schreiben. Claus Gatterer brach in seiner Arbeit eine Reihe von Tabus. 100 Jahre nach seinem Geburtstag, und 40 Jahre nach seinem Tod, ist er damit noch immer ein Vorbild. Eine Metapher für Menschlichkeit, für Integrität. Für einen leisen Journalismus, der nachhallt und unvergessen bleibt.

In seiner Arbeit schaute er auf jene, die gerne übersehen werden, die am Rande stehen. Sternenkinder und ihre Eltern, ihre Geschwister und Großeltern, sind oft unsichtbar, auch wenn es viele von ihnen gibt. Mehr als manche von uns glauben. Einige von ihnen habe ich in den letzten Jahren kennen lernen dürfen.

Die Auszeichnung im Namen eines so herausragenden Journalisten heute entgegen nehmen zu dürfen ehrt mich sehr. Gatterer ist ein Mann, dem ich mich verbunden fühle und nicht allein aufgrund der Tatsache, dass wir in zwei Dörfern aufgewachsen sind, die nur ein Berg trennt Auch wenn ich wünschte, ich hätte den Text, für den ich diesen Preis erhalte, nie schreiben müssen.

Anfangs hatte ich Bedenken, ob ich mich mit einer Veröffentlichung angreifbar mache. Ob ich hässliche Kommentare geschickt bekomme, die womöglich weitere Verletzungen nach sich ziehen. Das Gegenteil war der Fall. Nie zuvor erhielt ich auf einen Text so viele berührende Zuschriften: Handgeschriebene Briefe, Instagramnachrichten, Dutzende von Emails.

Darunter ein Mann, dessen Schwester wenige Tage nach ihrer Geburt verstarb, was in seiner Familie immer ein Tabu blieb. 50 Jahre lang litt er darunter, ehe er ihr einen Namen gab und sie stellvertretend mit einer Tonfigur begrub. Mein Text, schrieb er, habe ihm zum ersten Mal das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein.

Eine Mutter schrieb mir, die ihr viertes Kind, ihren Sohn Lorenz in der 38. Schwangerschaftswoche still gebar. Seit 25 Jahren vermisst sie ihn Tag für Tag. Meinen Text werde sie denen geben, die ihre Gefühle im Hinblick auf diese Trauer besser verstehen wollen. Vieles hat sich in den letzten Jahrzehnten dahingehend verbessert und doch wandten sich auch jene an mich, die durch ihre Arbeit unmittelbar mit den Trauernden konfrontiert und manchmal überfordert sind. Frauenärzt:innen, Krankenpfleger:innen, Hebammen.

Als mein Text erschien, wurde in einer deutschen Kleinstadt ein Kind still geboren. Dessen Eltern schrieben mir Tage später, sie wüssten nicht, wie sie nun weiterleben sollen. Und doch gäben ihnen meine Worte ein klein wenig Hoffnung, dass auch in ihr Leben irgendwann das Licht zurückkehren werde.

Ich danke der Jury für ihren Mut, durch diese Wahl nicht nur meiner Tochter Hera, sondern allen Sternenkindern Sichtbarkeit geschenkt zu haben. Zum Schluss ein Appell an Sie alle: Verschließen Sie sich nicht vor dem Schmerz Trauernder. Lassen sie ihn zu, halten sie ihn aus. Der Wert eines Lebens wird nicht von seiner Dauer bestimmt. Nennen Sie die Sternenkinder, von denen Sie wissen oder die Ihnen im Laufe des Lebens vielleicht begegnen werden, ab und anbei ihrem Namen. Sie sind so sehr geliebt. Sie sind unvergessen. Ihnen widme ich diesen Preis.

Laudatio von Kurt Langbein

Ich freue mich, heute hier sprechen zu dürfen und es ist mir eine besondere Ehre,  die Laudatio für Barbara Bachmann zur „Auszeichnung für hervorragenden Journalismus im Gedenken an Claus Gatterer“  zu halten. Es gab viele herausragende Einreichungen und in der Jury eine entsprechend ausführliche Diskussion, aber letztlich ein klares Votum. 

Barbara Bachmann hat uns ein wichtiges Thema auf eine sehr persönliche und gleichzeitig feinfühlige Art nahe gebracht. Sie, die den „ich“-Journalismus aus guten Gründen vermieden bis abgelehnt hat, erzählt von ihrem eigenen Kind, das starb, bevor es auf die Welt kam, von Schmerz und Trauer, von Bearbeitung des Traumas der Mutter ohne Kind. Die Eltern holen die kleine Hera zu sich auf den Bauernhof,  sie feiern mit ihr Weihnachten. Barbara Bachmann und ihr Mann holen den Tod dorthin, wo er hingehört: Ins Leben.

Barbara Bachmanns Artikel behandelt ein wichtiges Thema: Wir haben den Tod aus unserem Leben verbannt. Drei Viertel der Menschen bei uns wollen daheim sterben, aber die Realität ist umgekehrt: drei Viertel der Menschen in den Industriestaaten sterben im Krankhaus oder im Heim. Trauer und Abschied werden immer schwerer, wenn die Verstorbenen in Kühlhäusern auf die Bestattung warten.

Trauer und Schmerz kennen keine Schwangerschaftswoche. Wenn die werdenden Eltern vorab niemanden eingeweiht haben, trauern sie nach einer Fehlgeburt  häufig im Stillen und allein um ihr Baby. Das erweckt bei vielen den Eindruck, schnell mit dem Ereignis abschließen und wieder »funktionieren« zu müssen. Deshalb verstecken Betroffene ihre Gefühle mitunter, was sie zusätzlich zur Trauer seelisch unter Druck setzt. Beides erhöht das Risiko, eine psychische Erkrankung zu entwickeln.

Es ist ein großes Thema: Jedes Jahr sterben alleine im deutschen Sprachraum an die 150.000 Kinder, bevor sie geboren wurden. Wahrscheinlich sind es mehr, weil rund um Früh- und Fehlgeburten immer noch Tabus herrschen.

Sie hinterlassen Eltern, Geschwister, Großeltern. In der Öffentlichkeit und auch im Familien- und Freundeskreis wird allerdings kaum über Tot- und Fehlgeburten gesprochen. Wer bei älteren Verwandten gezielt nachfragt, erfährt nicht selten, dass es Cousins und Cousinen oder gar Geschwister gab, von denen man noch nie gehört hatte. Es war üblich, solche Verluste zu verschweigen. Nach der Geburt wurde den Eltern das verstorbene Kind meistens nicht einmal gezeigt, der kleine Körper wurde »der Entsorgung zugeführt« – ein hartes Schicksal für Betroffene. 

Das hat sich mittlerweile geändert. Allmählich verbreitet sich auch in der medizinischen Fachwelt das Bewusstsein dafür, dass Tot- und Fehlgeburten nicht nur fehlgeschlagene Schwangerschaften sind, sondern dass es dabei um ein Menschenkind geht, das gehen musste, bevor es gekommen ist.

Und Barbara Bachmanns Artikel ist ein journalistisches Meisterwerk. Sie beschreibt ihre Emotionen so authentisch und feinfühlig, dass Mit-Gefühl wohl bei fast allen Leser*innen gelingt, sie verbindet Persönliches mit Strukturellem, ihr Leid mit dem der 100.000enden anderen Müttern und Eltern. „Ich“-Journalismus der besten Art.

Barbara Bachmann wird 1985 in Winnebach, einem Ortsteil von Innichen geboren. Mit Journalismus habe ihr Herkunftsfamilie nichts zu tun, sagt sie. Der Vater wird vom Maurer zum Bauunternehmer, die Mutter vermietet Ferienwohnungen und betreut ihre drei Töchter.

Barbara liest leidenschaftlich und studiert in Innsbruck Germanistik und Politikwissenschaft. Der Traum vom Journalismus bewegt sie zu einem Praktikum bei der FF. Beim Bozener Wochenmagazin herrschte Personalnot, deshalb durfte die junge Praktikantin alles machen, fast jede Woche eine neue Geschichte.

Dann absolviert sie die Reportageschule in Reutlingen und wird zur engagierten und feinsinnigen Verfasserin von internationalen Reportagen für anerkannte Zeitungen und Zeitschriften wie „Reportagen“, „mare“, das „Süddeutsche Magazin“ und „Die Zeit“. Für ihre Arbeit wurde sie mit diversen Stipendien und Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Axel-Springer-Preis.

Eine neue Geschichte entstand auch, als Barbara vor sechs Jahren zu ihrem Mann auf dessen Erbhof auf 1500 Meter Höhe zog.

Neues kennen lernen – Menschen, Gegenden, Herausforderungen und deren Bewältigung, das sind erkennbar zentrale Motive von Barbara Bachmanns Arbeit.

Das Schicksal der kleinen Hera war wohl die größte Herausforderung in Barbara Bachmanns jungen Leben. Sie hat sie nicht bewältigt, wie wir oft sagen, wenn wir abschließen, wegschieben meinen. Sie hat ihre tote Hera ins Leben integriert – und uns hat der Artikel drüber wichtige Denkimpulse gebracht.

Danke dafür und herzliche Gratulation, Barbara Bachmann.

Anlässlich des 100. Geburtstages von Claus Gatterer hat der Politikwissenschafter und Vorsitzende der Michael Gaismair Gesellschaft  Bozen, Günther Pallaver, eine Rede am Journalismusfest in Innsbruck gehalten: Im Zweifel auf Seiten der Schwachen: Claus Gatterer 1924 – 1984